Die Wahl, die am 30. Januar im Irak stattfand, hat kein politisches Problem der amerikanischen Besatzungsmacht gelöst, dafür aber eine Reihe neuer geschaffen.
Die Wahl wurde als Schlag gegen die Aufstandsbewegung bezeichnet, die sich gegen die Besatzung richtet. Aber schon ehe die Stimmen ausgezählt sind, steht fest, dass in den sunnitischen Gebieten im Zentralirak, wo der Widerstand am stärksten ist, Millionen Iraker dem Aufruf zum Wahlboykott Folge geleistet haben.
In Mosul, der drittgrößten irakischen Stadt im Norden des Landes, wo in den vergangenen drei Monaten schwere Kämpfe stattgefunden haben, gaben von den 500.000 Wahlberechtigten nur 50.000 ihre Stimme ab; am höchsten war die Wahlbeteiligung in den kurdischen Stadtteilen. In Falludscha, wo schätzungsweise 6.000 Iraker ihr Leben verloren, als die Stadt im November vom amerikanischen Militär fast vollständig zerstört wurde, betrug die Wahlenthaltung fast hundert Prozent. In Tikrit gaben nur 4.000 bis 5.000 ihre Stimme ab, und in Ramadi und Samara gingen ein paar Hundert an die Urne. Eine geringe Wahlbeteiligung wird auch aus sunnitischen Städten südlich von Bagdad und aus den wichtigsten sunnitischen Stadtteilen der Hauptstadt gemeldet. Nach vorläufigen Schätzungen haben insgesamt nur zehn Prozent der sunnitischen Bevölkerung des Irak gewählt.
Ohne Zweifel haben zahlreiche Iraker in den sunnitischen Gebieten aus Furcht vor Anschlägen der Aufständischen auf Wahllokale und vor Vergeltungsmaßnahmen der Guerillagruppen nicht gewählt. Der hauptsächliche Grund war aber ihre Opposition gegen die Besatzung. Die sunnitische Bevölkerung hat seit der US-Invasion im März 2003 enorm gelitten. Zehntausende wurden getötet, verstümmelt, misshandelt sowie ihrer Arbeit und sozialen Stellung beraubt. Die wichtigsten religiösen und politischen Organisationen der Sunniten hatten zum Boykott aufgerufen, da, wie sie sagten, unter den Bedingungen von Besatzung und tagtäglicher Unterdrückung durch US-Soldaten in den sunnitischen Landesteilen keine wirklich demokratische Wahl möglich sei.
Die Vereinigung der Muslimischen Religionsgelehrten, eine Organisation 3.000 sunnitischer Geistlicher, die an der Spitze der Kampagne für den Boykott stand, hat bereits eine Erklärung herausgegeben, in der sie die Wahl für illegitim erklärt. Darin heißt es: "Der Wahl fehlt jede Legitimation, weil ein großer Teil der verschiedenen Religionsgruppen, Parteien und Strömungen mit Einfluss im Irak sie boykottiert hat. Das bedeutet notwendigerweise, dass die zukünftige Nationalversammlung und die Regierung, die aus ihr hervorgehen wird, nicht berechtigt sind, eine neue Verfassung zu entwerfen."
Gleichsam als Antwort auf die Behauptung, die Wahl werde die Intensität der Guerillaaktivitäten gegen die Besatzung verringern, kam es in den vergangenen vier Tagen zu einer Welle von Anschlägen auf amerikanische Truppen und irakische Polizeikräfte.
Nach den ursprünglichen, aufgeblähten Angaben zur Wahlbeteiligung - Fox News hatte von 90 Prozent berichtet - schätzen Beobachter jetzt, dass etwa acht Millionen Menschen oder 57 Prozent der Wahlberechtigten gewählt haben. Die größte Wahlbeteiligung gab es unter schiitischen und kurdischen Irakern.
In den drei überwiegend kurdischen Provinzen im Nordirak haben schätzungsweise 2,1 Millionen Menschen ihre Stimme abgegeben, hauptsächlich für die Koalition bürgerlicher kurdischer Parteien, die als Kurdische Allianz kandidiert hatten.
Im Südirak gingen sehr viele Schiiten zur Wahl. In wichtigen schiitischen Zentren wie Basra, Nasirija, Kerbala und Nadschaf sowie in den schiitischen Stadtteilen von Bagdad kam es zu langen Schlangen vor den Wahllokalen. In manchen Gegenden kamen so viele Wähler, dass die Wahlzettel ausgingen. Iraks Interimspräsident Ghazi al-Jawer berichtete am 2. Februar: "In Basra, Bagdad und Nadschaf konnten Zehntausende ihre Stimme nicht abgeben, weil es nicht genug Wahlzettel gab."
Etwa sechzig Prozent der irakischen Bevölkerung gehören der schiitischen Glaubensrichtung an. Die Mehrheit der schiitischen Stimmen ging an die Vereinigte Irakische Allianz (UIA), kurz Schia-Liste genannt. Diese Koalition gruppiert sich um die größten fundamentalistisch-schiitischen Parteien, den pro-iranischen Obersten Rat der Islamischen Revolution im Irak (SCIRI) und die Da’wa Partei, sowie den früher von den USA geförderten Irakischen Nationalkongress (INC) von Achmed Tschalabi. Die UIA wurde vom obersten schiitischen Geistlichen des Irak, Ajatollah Ali al-Sistani, unterstützt, der eine Fatwa herausgab, die es für jeden Schiiten zur religiösen Pflicht machte, zur Wahl zu gehen. Sein Bild prangte auf den meisten Wahlplakaten der Schia-Liste.
Wie am 4. Februar bekannt gegebenen Zahlen zu entnehmen ist, gewann die UIA in den zehn mehrheitlich von Schiiten bewohnten Provinzen im Südirak mindestens zwei Drittel der abgegebenen Stimmen. Wenn die landesweiten Ergebnisse feststehen, wird sie wahrscheinlich 45 bis 50 Prozent der Sitze in der 275 Mitglieder umfassenden Übergangsversammlung erhalten. Auf die kurdischen Parteien könnten etwa 25 Prozent der Sitze entfallen. Die Koalition der Irakischen Liste des Übergangsministerpräsidenten Ijad Allawi und die Volksunions-Koalition unter Führung der Kommunistischen Partei des Irak (KPI) können mit je zehn Prozent Unterstützung rechnen.
Die reine Wahlbeteiligung sagt aber nichts über die Stimmung der schiitischen und kurdischen Massen aus, noch über die Gründe, warum sie im Gegensatz zur sunnitischen Bevölkerung so zahlreich zur Wahl gegangen sind.
Aus mehreren historischen Gründen besteht die Mehrheit der Arbeiterklasse und der ländlichen Massen im heutigen Irak aus Schiiten und Kurden. Ihr Wunsch nach sozialer Gleichheit und demokratischen, nationalen und religiösen Rechten hatte einen eindeutig linksgerichteten und säkularen Anstrich.
Nach dem Sturz der von Großbritannien und den USA unterhaltenen Monarchie unterstützten jahrzehntelang Millionen schiitische, sunnitische und kurdische Arbeiter im Irak die stalinistische Kommunistische Partei, die sie fälschlicherweise für eine wirklich sozialistische und antiimperialistische Organisation hielten. Der schiitische Fundamentalismus und der kurdische Nationalismus gewannen erst nach der blutigen Unterdrückung der Arbeiterklasse durch die Baathisten 1978 zunehmend an Unterstützung. Das Blutbad wurde durch die Weigerung der KPI begünstigt, das Regime offen zu bekämpfen, das sie vorher als Repräsentant des progressiven Flügels der herrschenden Klasse dargestellt hatte.
Das Abstimmungsverhalten am vergangenen Sonntag kann nur auf dem Hintergrund dieser komplexen Geschichte verstanden werden. Die Wahl war keine Billigung der amerikanischen Invasion und Besatzung. Sie war vor allem eine Widerspiegelung des verwirrten, aber tief verwurzelten Strebens der irakischen Bevölkerung nach anhaltenden gesellschaftlichen Veränderungen und einem Ende der jahrzehntelangen politischen Unterdrückung.
Die Parteien der Schia-Liste und al-Sistani schürten die Illusion, die Wahl werde zu einem schnellen Ende der amerikanischen Militärpräsenz im Irak und zu einer Regierung führen, die sich der sozialen Bedürfnisse von Millionen Schiiten in der Arbeiterklasse und auf dem Lande annimmt. Die kurdischen Parteien versprachen, die Reorganisation des Irak unter der US-Besatzung werde einen autonomen oder völlig unabhängigen Kurdenstaat im Nordirak zum Ergebnis haben, so dass die Kurden niemals mehr verfolgt würden. Außerdem werde die Kontrolle über die Ölfelder des Nordirak um Kirkuk einen verbesserten Lebensstandard ermöglichen.
Konflikte unvermeidlich
Keines dieser Versprechen wird sich erfüllen. Die Bush-Regierung marschierte 2003 nicht in das Land ein, um die Unterdrückung der irakischen Schiiten, der Kurden oder von sonst wem zu beenden. Die Kriegsziele waren und bleiben die Verwandlung des Landes in einen US-Vasallenstaat und die Aushändigung seiner Energiereserven an amerikanische Ölkonglomerate. Um diese Ziele zu erreichen ist Washington bereit, Teilen der herrschenden Klasse im Irak geringfügige Zugeständnisse zu machen, wird aber auf keinen Fall Forderungen akzeptieren, die seinen geopolitischen und ökonomischen Ambitionen in der Region hinderlich sind.
Mit ihrem Wahlerfolg geraten daher die schiitischen und kurdischen Parteien sowohl auf Kollisionskurs mit dem US-Imperialismus als auch mit den Schichten, die sie gewählt haben. Sie werden die Unterstützung der USA nur dann behalten, wenn sie Washingtons Diktate ausführen, aber gerade dadurch werden sie sich in den Augen ihrer Wähler zunehmend bloßstellen.
Die Frage der kurdischen Kontrolle über Kirkuk und die Ölfelder der Region hat bereits zu Spannungen geführt. Washington besteht gegenwärtig darauf, dass der Nordirak nie mehr sein werde als eine autonome Zone, ohne starkewirtschaftliche Basis. Die Türkei hat indirekt mit einem militärischen Eingreifen im Nordirak gedroht, falls es Schritte zu einem unabhängigen kurdischen Staat mit eigenen Ölquellen geben sollte. Sie befürchtet, ein solcher Staat könnte die separatistische Stimmung unter der großen kurdischen Minderheit der Türkei anheizen. Ein türkisch-kurdischer Konflikt würde die Region in anhaltende Unruhen stürzen und die US-Interessen ernsthaft beeinträchtigen.
Durch die Unterstützung separatistischer Stimmungen unter den irakischen Kurden während der letzten fünfzehn Jahre haben die USA jedoch Kräfte entfesselt, die nicht einfach zu kontrollieren sind. Ein kurdischer Stammesführer sagte der Los Angeles Times vergangene Woche: "Talabani und Barsani [die wichtigsten kurdischen Führer] dürfen Kirkuk nicht aufgeben. Wenn sie es dennoch tun, wird sich das Volk von ihnen abwenden. Wir würden das nicht akzeptieren. Wir wollen, dass das friedlich geregelt wird, aber wenn nicht: Wir haben schon viele Opfer für Kirkuk gebracht, und wir sind bereit, noch viel mehr zu bringen. Das Öl von Kirkuk wird unsere Basis sein, und wir werden es nicht aufgeben."
Der kurdisch-nationalistische Dichter Sherko Bekas sagte der Los Angeles Times : "Ich bin von der amerikanischen Politik gegenüber den Kurden enttäuscht. Die USA verstehen die Lage im Irak nicht wirklich." Die Agitation für einen unabhängigen Staat im Nordirak nimmt zu, und schon wird die Forderung nach einem Referendum gestellt.
Auch zwischen den schiitischen Massen und den Parteien der Schia-Liste werden bereits Spannungen sichtbar. Schon vor der Wahl hatten die Schia-Parteien die Forderung nach einem Rückzug der ausländischen Truppen praktisch aufgegeben, als sie erklärten, er könne erst stattfinden, wenn die US-gestützte Regierung genügend eigene Kräfte habe, um sie zu ersetzen. Die Rückständigkeit des Landes, im Verein mit der Ausplünderung seiner Reichtümer durch ausländische Wirtschaftsinteressen, machen es gleichzeitig unmöglich, die sozialen Probleme der Bevölkerung ernsthaft anzugehen, seien es die allgegenwärtige Arbeitslosigkeit, der Mangel an grundlegender Infrastruktur oder die allgemeine Armut. Mit anderen Worten, eine Marionettenregierung, die von der schiitischen Elite dominiert wird, wird den schiitischen Massen nichts bringen.
Moqtada al-Sadr, der geistliche Führer des letztjährigen Schiitenaufstands gegen die US-Besatzung, griff al-Sistani und die Schia-Liste vergangene Woche wegen des Kompromisses über den amerikanischen Truppenabzug direkt an, ein Anzeichen wachsender Unzufriedenheit. Sadr hatte seit dem vergangenen September manövriert: Einerseits stimmte er einem Waffenstillstand mit dem US-Militär zu und akzeptierte die Besatzung stillschweigend, andererseits versuchte er, seine Basis bei den schiitischen Massen durch demagogische Kritik an den USA bei der Stange zu halten. Seine jüngste Erklärung zeigt, dass unter seinen Anhängerndie Empörung über die Weigerung des schiitischen Establishments wächst, offen gegen die US-Besatzung zu kämpfen.
Sadr rief "alle religiösen und politischen Kräfte, die die Wahl unterstützt und an ihr teilgenommen haben, dazu auf, offiziell einen Zeitplan für den Abzug der Besatzungstruppen aus dem Irak zu fordern". Er habe nicht an derWahl teilgenommen, weil er keine Schachfigur des Westens sein wollte, habe aber auch nicht dagegen gearbeitet, weil er gegenüber der Marjaiyah [dem von al-Sistani angeführten religiösen Rat] nicht ungehorsam sein wollte, sagte er.
Der Wahlausgang wird mit fortschreitender Zeit Auswirkungen zeigen. Der Aufstand in den sunnitischen Regionen wird weitergehen und zwischen den amerikanischen Besatzern und der schiitischen und kurdischen Bevölkerung wird es unweigerlich zu Konflikten kommen.
Hinzu kommt, dass sich die von den USA nach der Invasion geschaffenen politischen Mechanismen zunehmend als unhaltbar erweisen. Die im März 2004 von den USA erlassene Bestimmung über die Übergangsregierung sieht folgende Schritte vor: Die gerade abgehaltenen Wahlen, die Bildung einer Übergangsregierung, die Ausarbeitung einer Verfassung durch das Übergangsparlament, ein Referendum über diesen Entwurf und schließlich die Wahl zur ersten Nationalversammlung im Januar 2006.
Der ganze Prozess ist in Frage gestellt. Die Bestimmung beinhaltet einen Absatz, demzufolge die Verfassung als abgelehnt gilt, wenn in nur drei der achtzehn Provinzen des Landes zwei Drittel der Wähler dagegen stimmen. Diese Klausel wurde eingefügt, um die religiöse Hierarchie der Schiiten und die Teile der sunnitischen Elite, die mit der Besatzungsmacht kooperieren, zu zwingen, eine weitgehende Autonomie der kurdischen Nordprovinzen zu akzeptieren. Sollten sie sich weigern, könnten die Kurden alleine die Verfassung zu Fall bringen. Im Gegenzug wurde den Kurden Kirkuk und die Ölfelder im Norden verweigert.
Die Konflikte zwischen den rivalisierenden Fraktionen im Irak werden neu aufbrechen, sobald man versuchen wird, eine permanente Verfassung konkret zu formulieren. Es ist möglich, dass die Verhandlungen politisch völlig zusammenbrechen, und es besteht die Gefahr eines Bürgerkriegs. Selbst wenn ein Verfassungsentwurf zustande kommt, könnte er von einer oder mehreren großen Volksgruppen abgelehnt werden. Die Erklärung der Vereinigung der Muslimischen Religionsgelehrten aus der vergangenen Woche macht deutlich, dass die führenden sunnitischen Organisationen sich an der Ausarbeitung der Verfassung nicht beteiligen und ihre Ablehnung in einem Referendum empfehlen wollen.
Es war von vorneherein klar, dass die räuberischen Ziele der US-Invasion nur erreicht werden können, wenn der amerikanische Imperialismus die ungelösten demokratischen, sozialen und nationalen Fragen im Lande und im ganzen Nahen und Mittleren Osten unterdrückt. Washington hat für diese Probleme keine bessere Antwort als das Baathisten-Regime Saddam Husseins. Die USA können ihre Kontrolleüber den Irak nur durch wachsenden Terror und Unterdrückung aufrecht erhalten.